Wie steht es um das globale Ernährungssystem? Was kann ein kleines Land wie Liechtenstein zu einer besseren Ernährung beitragen? Martijn Sonnevelt leitet das World Food System Center der ETH und hat diese und weiter Fragen ausführlich beantwortet.
Wie schlimm steht es wirklich um das "World Food System"?
Flächenverlust, stagnierender Produktivität und geopolitische Spannungen sowie eine erhöhte Nachfrage nach Nahrungsmitteln durch eine wachsende Weltbevölkerung stellen die Ernährungssysteme lokal vor grosse Herausforderungen. Eine wichtige Triebkraft ist dabei der Klimawandel und seine unterschiedlichsten Folgen. Das globale Ernährungssystem verbraucht zu viel fossile Energie, zu viel Frischwasser, treibt den Klimawandel an und führt zum Verlust von Biodiversität oder Böden. Wir sind stark von einer Produktion abhängig, die durch Schocks sehr schnell aus dem Gleichgewicht gerät. Dies zeigen die Folgen der Corona Pandemie oder der Einfluss des Ukrainekriegs auf die globale Versorgung mit Getreide.
Die Welt hat sich 2015 mit der Agenda 2030 und den darin enthaltenen 17 Nachhaltigkeitszielen (SDGs) einen ambitionierten Plan auferlegt der Dimensionen der Ernährungssicherheit, Verbesserung der Umweltbedingungen und soziale Aspekte verbessern will. SDG 2 «Beseitigung des Hungers» will beispielsweise den Hunger auf der Welt bis 2030 eliminieren. Die Realität ist aber eine andere. Für 2022 wurde die Zahl der Hungernden weltweit auf rund 735 Millionen Menschen geschätzt, das sind rund 122 Millionen mehr als noch 2019, vor der Pandemie. Millionen von Kindern leiden unter Fehl- und Mangelernährung, das ist dramatisch.
Wer sind die wichtigsten Akteure (privat oder staatlich), die etwas Entscheidendes ändern könnten? Und was wäre das?
Die Grundursachen für Ernährungsunsicherheit sind Konflikte, Armut, Klimavariabilität und Wetterextrem sowie Konjunkturabschwächungen. Eine weitere grosse Herausforderung ist, dass Ernährungsunsicherheit und Ungleichheit eng miteinander verbunden sind. Kleinbauern haben oft einen schlechten Zugang zu Land, anderen Ressourcen und zum Markt. Verbraucherinnen und Verbraucher haben zu oft nur mangelndem Zugang zu gesunden, nahrhaften Lebensmitteln. Menschen brauchen wieder mehr Entscheidungsmacht über die Art und Weise wie Lebensmittel global produziert und konsumiert werden. Es braucht also einen grundlegenden Wandel auf allen Ebenen.
Alle Akteure sind gefordert: multinationale Organisationen wie die UNO, Regierungen, der Privatsektor, zivilgesellschaftliche Organisationen und Konsumentinnen und Konsumenten. Nur gemeinsam geht es. Der Umwelteinfluss des Ernährungssystems muss sich reduzieren während gleichzeitig für die Folgen des Klimawandels auf das Produktionspotential abgedämpft wird. Gesunder, frische und nahrhafte Nahrungsmittel dürfen nicht wesentlich teurer sein als eine einseitige Ernährung oder hochverarbeitete Produkte. Armut und strukturelle Ungleichheiten müssen lokal und durch die Stärkung eines internationalen Handelssystems überwunden werden. Die Länder des globalen Südens müssen mehr für den eigenen Markt produzieren statt für den Export. Dazu braucht es Verarbeitungskapazitäten und die Bereitschaft international tätiger Firmen die Produkte lokal zu verarbeiten.
Global geht rund 1/3 der Nahrung verloren. Nahrung, für die wir Ressourcen aufgewendet haben und die Energie und Wasser verbraucht und Emissionen verursacht haben. Im globalen Süden fallen die Verluste grossmehrheitlich während und nach der Ernte an. Durch verbesserte Lager-, Transport und Kühlkapazitäten und Marktmechanismen kann Food Loss verhindert werden. Im globalen Norden landet rund ein Drittel der Nahrung landet im Müll. Wir alle müssen handeln.
Was kann ein kleines Land wie Liechtenstein dazu beitragen, dass sich die Welt besser ernährt?
Kleine Länder wie Liechtenstein oder die Schweiz können auf verschiedenen Ebenen ansetzten. Kurzfristig sollte das Welternährungsprogramm stärker finanziell unterstützt werden, um die akute Mangel- und Unterernährung zu bekämpfen. Mittel-bis langfristig geht es zum einem darum durch ein zielgerichtete und international koordinierte Entwicklungszusammenarbeit lokale Ernährungssysteme zu stärken. Hierzu sind ein Schuldenabbau und Investitionen in Infrastruktur, und in gestärkte Institutionen wichtig.
Für die eigene Agrarpolitik sollte zudem das Ziel sein den Umwelteinfluss der Landwirtschaft und des Ernährungssystems zu reduzieren. Die Reduktion des Pestizideinsatzes ist von grosser Bedeutung. Gegenwärtig wird noch viel zu wenig in eine Landwirtschaft ohne Pestizide investiert. Produktionssysteme, die mit möglichst wenig Inputs von aussen, wie synthetische Düngemittel oder Pestizide, auskommen und die natürlichen Kreisläufe, gesunde, humusreiche Böden stärken und die Artenvielfalt fördern müssen vermehrt unterstützt und gefördert werden. Das Konzept der Agrarökologie bietet hier viel Inspiration. Sie nimmt zudem wichtige soziale Aspekte wie die Stärkung der Zusammenarbeit, Regionalität und faire Wertschöpfungsketten auf.
Was für einen Einfluss hat der Klimawandel auf die Ernährung der Menschheit?
Der Klimawandel und das Ernährungssystem sind eng miteinander verbunden. Das Ernährungssystem wie wir es heute kennen trägt, indem es rund 30% der gesamten Treibhausgasemissionen emittiert, erheblich zur Klimaerwärmung bei. Gleichzeitig verändert der vorschreitende Klimawandel die Art und Weise wo und wie wir global produzieren, Nahrungsmittel handeln und verarbeiten aber auch konsumieren. Durch langanhaltenden Trockenperioden zum Beispiel gehen weltweit, besonders aber in Afrika und Asien, viele Ernteerträge und fruchtbares Land verloren. Durch den Klimawandel können in gewissen Gebieten nicht mehr dieselben Pflanzen angebaut werden beziehungsweise andere Gebiete eignen sich plötzlich besser. Der Klimawandel führt durch eine Häufung extremer Wetterereignisse zu Unsicherheit auf den globalen Märkten da sich das Angebot kurzfristig und unvorhersehbar ändert.
Um den Klimaabdruck der Ernährung zu reduzieren kann die sogenannte «Planetary Health Diet» als Inspiration für eine Ernährungsweise, die gesund für den Menschen und die Umwelt ist., dienen. Der Teller einer erwachsenen Person sollte zur Hälfte mit Früchten und Gemüse gefüllt sein. Die andere Hälfte sollte vor allem aus Vollkorngetreide, pflanzlichen Proteinen (Bohnen, Linsen, Hülsenfrüchte, Nüsse), ungesättigten Pflanzenölen, geringe Mengen an Fleisch und Milchprodukten sowie etwas zugesetztem Zucker und stärkehaltigem Gemüse bestehen.
Wie soll der Konsument erkennen, welche Lebensmittel "gut" und welche "schlecht" sind - für das Ernährungssystem, für die Umwelt, das Klima etc.
Es gibt eine Vielzahl Labels, die den Kunden, die Kundin beim Kauf unterstützten können. Manchmal ist es nicht leicht den Überblick zu behalten. Ich denke aus Sicht des Konsumierenden ist es wichtig, eigene Prioritäten und Grundsätze festzulegen, welche dann die täglichen Kaufentscheide beeinflussen. Vor einigen Wochen wurde ein überarbeiteter Labelcheck publiziert. (https://www.labelinfo.ch/de/) Diese Entscheidungshilfe beurteilt unter Berücksichtigung von vier Dimensionen (Glaubwürdigkeit; Umweltfreundlichkeit, Sozialverträglichkeit und Tierwohl) die Qualität der handelsüblichen Labels.
Vier Grundregeln sind aus meiner Sicht für Konsumierende in Europa entscheidend: 1) Reduktion des Konsums tierischer Proteine, 2) Verzicht auf Lebensmittel, die per Flugzeug transportiert wurden, 3) Konsum von saisonalen Produkten wobei man dabei regionaler Produkte bevorzugen sollte und 4) und dies ist wohl die wichtigste Regel: Vermeidung von Lebensmittelabfällen.
Information allein reicht aber nicht. Entscheidend ist es Menschen zu inspirieren und durch Anreize zu bewegen. Konsumentinnen und Konsumenten brauchen Anreize, um zu erkennen, dass eine nachhaltigere Ernährung genussvoll ist und dass eine Auseinandersetzung damit wer für uns Nahrungsmittel produziert und was es alles braucht, bis diese bei uns auf dem Teller landet äusserst spannend ist und zu einem achtsameren Umgang mit Nahrungsmitteln führt.
Welche aktuellen Projekte am World Food System Center finden Sie besonders spannend oder bahnbrechend und warum?
Für die Vielzahl der Herausforderungen des Ernährungssysteme gibt es weder Patentrezepte noch einfache Lösungen. Es geht um eine systemische Betrachtung und eine systemische Herangehensweise. Ernährungssysteme sind nachhaltig, wenn sie gleichzeitig Ernährungssicherheit garantieren, die Gesundheit von Mensch und Umwelt und soziales Wohlergehen garantiert und eine Lebensgrundlage aller Akteurinnen und Akteure des Systems ermöglicht. Um diese Vision zu unterstützen, arbeiten Forschende am World Food System Center an einer Vielzahl von Projekten. Oft geht es darum verschiedene Ansätze zu kombinieren. Durch den Einsatz von neuen Technologien und Verfahren wie Robotern in Kombination mit agrarökologischen Ansätzen kann die Diversität der Agrarökosysteme gestärkt und Leistungen wie zum Beispiel Bodenschutz, natürliche Schädlingsbekämpfung unterstützt werden.
Besonders wichtig sind Projekte an denen Expertinnen und Experten aus verschiedenen Disziplinen mit unterschiedlichen Perspektiven an einem Projekt arbeiten. Wir untersuchen zum Beispiel wie wir mit Hilfe von Bildverarbeitung, einer Vielzahl von Daten Computern und Robotern den Einsatz von Pflanzenschutz- oder Düngermitteln reduzieren können dabei die Umwelt schonen aber auch die Produktionskosten der Landwirtinnen und Landwirte reduzieren.
In einem anderen Projekt arbeiten wir an der Entwicklung von Prozessen, die es ermöglichen Proteine für Lebensmittelanwendungen aus Mikroalgen zu gewinnen oder Insektenproteine für Futtermittel zu nutzen. Diese neuen Proteinquellen benötigen viel weniger Ressourcen bzw. Insekten als Futtermittel können Abfälle verwerten. Um den Nutzen dieser neuen Proteinquellen besser einordnen zu können erarbeiten wir ganzheitliche Nachhaltigkeitsbewertungen, die wir mit denen herkömmlicher Proteinquellen aus Tieren und Pflanzen vergleichen. Darüber hinaus untersuchen wir wie Konsumentinnen und Konsumenten diese Produkte wahrnehmen akzeptieren.
Wie können Sie sicherstellen, dass Ihre Forschungsergebnisse und Erkenntnisse auch tatsächlich zur Umsetzung gelangen?
Wir am World Food System Center glauben, dass die Lösungen zur Bewältigung der Herausforderungen des Ernährungssystem nur erfolgreich sind, wenn wir die Zusammenarbeit globaler und lokaler Akteure entlang der gesamten Lebensmittelwertschöpfungskette stärken. Wir versuchen die Umsetzung bestmöglich zu unterstützen in dem wir Forschungsprogramme mit Partnern zum Beispiel aus der Industrie durchführen. Das Ziel dabei ist es, dass neue Ergebnisse aus der Forschung in die Entscheidungsprozesse der Landwirtschaft und der Industrie einfliessen.
Dasselbe Prinzip gilt auch in Projekten im globalen Süden. Wir engagieren uns in Projekten in denen Forschende mit Entwicklungsorganisationen und Landwirtinnen und Landwirte zusammenarbeiten. Dort werden beispielsweise durch Ansätze der Kreislaufwirtschaft Nährstoffe in Form von organischen Abfällen oder menschlichen Ausscheidungen lokal zu Düngemitteln oder anderen Produkten zur Verbesserung der Bodenqualität lokal verarbeitet. Wir forschen auch an Ansätzen wie aus Lebensmittelabfällen oder Seitenströmen der Lebensmittelindustrie, die gegenwärtig entsorgt werden, hochwertige Futtermittel oder Materialien werden, die wieder in den Produktionskreislauf genommen werden können. Die Ideen der Forschung müssen dabei durch in der Realität getestet und Schritt für Schritt verbessert werden, um sie marktfähig und auch preislich attraktiv zu machen.
Ernähren Sie sich privat perfekt?
Nein. Eine perfekte Ernährung ist im Alltag kaum umsetzbar. Ich versuche mich möglichst bewusst zu ernähren. Dies bedeutet, dass ich, wenn immer möglich, lokal und saisonal esse und den Konsum von tierischen Eiweissen reduziere. Wichtig ist mir darüber hinaus, dass ich weiss, woher die Produkte kommen, wie sie hergestellt oder bei Fleisch und Milchprodukte, wie das Tier gefüttert, gehalten und geschlachtet wurde. Bei Fleisch oder Gemüse geht das relativ einfach. Der Bezug dieser Produkte direkt ab Hof, indem man Mischpakte kauft oder ein Gemüsebau per Post erhält, ist ohne viel Aufwand möglich.
Bei Käse, Milch oder verarbeiteten Produkte ist eine detaillierte Kenntnis der Produktionsweisen schwieriger. Labels können da eine Hilfe sein. Am wichtigsten ist aber der Umgang mit den Nahrungsmitteln. Wir versuchen zum Beispiel unseren Kindern aufzuzeigen welche Arbeitsschritte, Ressourcen und Hingabe es braucht, bis z.B. das Joghurt bei uns auf dem Teller landet. So wollen wir ihnen aufzuzeigen welchen Wert Nahrungsmittel haben.
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